Rede  von Jens Hoffmann (Kurator der Städtischen Galerie Haus Eichenmüller, Lemgo) zur Ausstellungseröffnung im ZIF, Zentrum für iInterdisziplinäre Forschung Bielefeld, 2002

Zwischen Ortlosigkeit und Gegenwartsdichte
Überlegungen zur Malerei von Anne-Christin Radeke

In der heutigen Zeit kursiert in Kunstkreisen immer wieder die Frage: Ist Malerei noch zeitgemäß?


Was die Malerei zu dem Punkt ihrer nach wie vor gültigen Aussagekraft und Magie geführt hat, ist nicht zuletzt ihr viele Jahrhunderte, ja sogar Jahrtausende währender langer Atem. Dieser außerordentlich vielfältigen Ausdrucksform liegt ein zutiefst ursprünglicher schöpferischer Impuls zugrunde. Der Mensch als Kunstschaffender bleibt mit seiner Hingabe, seinen Fertigkeiten, seinem Credo im Bild spürbar – als Maler ist er durch keine technischen Errungenschaften zu ersetzen.
Mit einer Technik von faszinierender Finesse und einem eindringlichen Themenkomplex führt A.C. Radeke die Frage nach der gegenwärtigen Relevanz von Malerei ad absurdum.

Günter Grass hat vor Jahren in einem dokumentarischen Gespräch mit Siegfried Lenz den Begriff der “Vergegenkunft“ geprägt und meinte damit eine vierte Zeit, die es uns möglich macht, unsere Schuleinteilung Vergangenheit – Gegenwart – Zukunft zu überspringen oder parallel zu schalten, als ein Unterfangen wider die Redzierung unserer Wirklichkeit.

Auch die Arbeiten von A.C. Radeke erscheinen häufig wie Bilder einer Zeitreise. In ihrem Zielen auf Daseinserkenntnis lassen sie die Blickrichtungen „zurück“, „voraus“ und „auf das Hier und jetzt“ verschmelzen.. Auch das Dargestellte verweist nicht selten metaphorisch auf körperlich wie geistiges Unterwegssein. Genannt seien zum Beispiel Boote, Durchgänge, Bücher, sterbliche Hüllen und diffuse Lichträume. Wobei letztere – mit großer malerischer Bravour dargebotenen – den Zusammenhang behandeln zwischen dem uns umgebenden oder begegnenden Licht und unseren Wahrnehmungs-Prozessen und –Möglichkeiten. Dies ist durchaus auch im übertragenen, hier auf Transzendenz abzielenden Sinn zu verstehen.


Die Frage nach der Reichweite und Klarheit unseres Erinnerungsvermögens und nach der Ausrichtung unserer Imaginationskraft wird durch diese Bildelemente ebenfalls mit aufgeworfen. Räumliche Staffelungen innerhalb des Blickfeldes bringen zudem Zonen hervor, die als Bild im Bild erscheinen und mit dem genannten Fragenkomplex Hand in Hand gehen.

Die Bilder von A. C. Radeke transportieren nicht nur eine zeitliche Offenheit oder Durchlässigkeit - auch im Hinblick auf den Ort, an dem sich das Dargestellte abspielt oder befindet, gibt es keine eindeutigen Hinweise. Diese Malerei spielt sich ab auf einer bewusst karg gehaltenen Bühne, wo die Auffassungs-gabe wachsender Gegenwärtigkeit in Zwiesprache tritt mit dem Speicher des Erlebten und Registrierten. Zudem werden über das tastende Vordringen ins eigene Unbewusste die fernen Tiefen eines kollektiven Gedächtnisses anvisiert ... die Künstlerin lässt sich ohne jegliche Ideenskizze oder Vorzeichnung darauf ein, betrachtet jedes Bild als zu erforschendes, überraschungsreiches Neuland.


Dieser Vorgang des Malens besteht etwa aus bewussten Setzungen, intuitivem Tun, nüchtern-analytischem Abwägen, Dialog mit dem Zufall und Fügungen oder Inspirationsfunken. Die Kombination dieser Komponenten scheint das geeignetste Vehikel zu sein, um aus der Nebelzone des Spürbaren, aber Unsagbaren, pulsierenden Urstoff an die Oberfläche der Leinwand zu ziehen und dort zu neuen erhellenden Zeichen und Konstellationen zu formen.

Der Startimpuls, der A.C. Radeke zu dem oftmals langwierigen Prozess, dem kreativen Kampf der Bildschöpfung hinführt, ist jeweils unterschiedlich konkret. Mal taucht die Malerei weitestgehend ins Ungewisse, um bedingt durch die ihr innewohnenden Möglichkeiten erst das eigentliche Bildthema freizulegen bzw. entstehen zu lassen. Im anderen Fall liegen der Initialzündung persönliche Erlebnisse oder komplexe Überlegungen zugrunde, denen nicht selten ein bedrängender, berührender oder herausfordernder Impetus zu eigen ist.

In jedem Fall aber ist das Malen der Prozess einer Transformation. Im entstehen entwickelt das Bild ein Eigenleben, wächst über das Ursprüngliche oder im malerischen Experimentieren gewonnene Thema hinaus, wird offener, wieder freier, sublimiert sein Sujet im Vermeiden einer eng gefassten Aussage, einer richtigen Lesart.

A.C.Radekes Malerei liefert keine konkrete Geschichte oder mit vielsagenden vertrauten Details angereicherte Situation. Dies sind weniger Bilder des Erzählens als Bilder der Evokation.
Denkprozesse mit einer Neigung zu philosophischer Ausrichtung werden in Gang gesetzt. Im Betrachter werden eigene Bilder wachgerufen oder erzeugt, die quasi inmitten, hinter oder neben dem im Gemälde Sichtbaren liegen. Die Kunstwerke speisen die Entwicklung, Konkretisierung und Erweiterung eigener Denkrichtungen und Vorstellungswelten.

Im folgenden möchte ich einige Aspekte der Gestalten, Figuren und Körper ansprechen. Vieles von dem, was in den figürlich dominierten Arbeiten im wahrsten Sinne des Wortes verkörpert wird, ist als atmosphärisches Fundament und geistige Grundhaltung auch in den anderen, abstrakteren Bildern anzutreffen.


Die Figuren befinden sich häufig in einem Zustand des Verharrens – ein Wort wie die rauhe Seite der Wirklichkeit. Aber auf der anderen Seite verweisen sie auf die Bedeutung es Innehaltens, auf jene konstruktiven Unterbrechungen in einer oftmals festgefügten Handlungsstruktur – Sekunden, in denen alle Sinne zur Wachheit aufgerufen werden, und in denen ein Erkennen, Begreifen, Umdenken sich Weg bahnt.


Es ist naheliegend, vor diesem Hintergrund auch über das Warten als einen grundlegenden und alltäglichen Bestandteil unseres Daseins nachzudenken. Es geht dabei um das Absehbare, das Geahnte und das Unvorhersehbare. Aber hinter den alltagsbezogenen Erwartungen scheint sich ein Bereich bedeutsameren Wartens zu verbergen, der eines Wünschens, das auf Ereignisse und Überraschungen von großer befreiender, umwertender Wirkung hofft.


In der hier gezeigten Malerei trifft man auf metaphysisch aufgeladene Zonen, die behaftet sind mit unstillbarer Sehnsucht.

Aber die Protagonisten der Bilder sind schließlich die Passagiere der bereits benannten Zeitreise. Ihre differenzierten, oftmals Stille verströmenden körperlichen Haltungen dürfen auch als Veranschaulichung eines geistigen Suchens nach einer angemessenen Haltung zum Leben interpretiert werden. Ihr Unterwegssein verzieht sich verhalten, im Gegensatz zur Hast unserer Zeit.


Einige Gestalten scheinen als Wächter, Hüter oder Begleiter aufzutreten, verweisen so auf Schützens-  und Erhaltenswertes und nicht zuletzt auf einen Bereich des Geheimnisses und der Unergründlichkeit.
Andere wirken schlafwandlerisch oder schattenhaft, vielleicht auch umgeben von einer Aura oder einem Kokon, in denen sich eine Wandlung vollzieht. Nicht wenige tendieren von ihrem Erscheinungsbild – ob rau und ausgedünnt oder flächig glatt und klar konturiert – zu einer skulpturalen Anmutung. Die Vorstellung von einer Vermischung von Lebendigem mit Materie taucht auf, auch der Begriff der Versteinerung und stellt z.B. eine Querverbindung zur Sagenwelt her, welche zumindest untergründig zu A.C. Radekes Inspirationsquellen zählt.


Da, wo wir geneigt sind von Körpern im fleischlich-kreatürlichen Sinne zu sprechen, zeigen sich diese in ihrer Vereinzelung, Blöße, Verletzlichkeit oder tatsächlichen Verletztheit, bzw. sie werden uns geradezu wie menschliches Anschauungsmaterial, rätselhafte Wesen, Mumien oder medizinische Fälle, vorgeführt.

Auch bei den nicht primär figurativ bestimmten Bildern handelt es sich nicht um freie, ungegenständliche Malerei – stets lassen sich zumindest (bewusst intendierte) Anklänge an die vertraute Dingwelt erkennen.


Häufig begegnen wir in diesen Arbeiten erstaunlichen Formenkonstellationen, in denen sich dingliche, körperliche und zeichenhafte Elemente durchdringen. In ihnen verdichtet sich eine Annäherung an das Unergründliche schlechthin. Diese Bilder sind eine große, herausfordernde Einladung. Sie liefern ein Ausgangsfeld für weitreichende assoziative und meditative Prozesse, die aber stets durch farbliche und formale Aspekte jenseits von Beliebigkeit konzentriert und geleitet werden.

Die beiden Hauptrichtungen in A.-C. Radekes malerischem Schaffen haben sich über die Jahre mehrmals abgewechselt. Oft hat eine für längere Zeit das Geschehen dominiert, aber letztendlich sind ihre Grenzen fließend. Sie stehen in einem homogenen Verhältnis zueinander, Erfahrungen und Ideen befinden sich zwischen ihnen im Pendelverkehr.

In dieser Ausstellung kann man auch einem interessanten Bild des Übergangs von einer figurativen zu einer abstrakteren Phase begegnen. Darin sind nur noch einige figürliche Silhouetten schwach sichtbar in vertikalen, rechteckigen Zonen verborgen. Man könnte sagen, sie befinden sich hinter mehrdeutigen, dunstig-flüssigen Schleiern des Verschwindens. Ein Werk, das wie gemaltes Nachdenken wirkt, unterschiedliche Aggregat- und Seinszustände miteinander in Beziehung setzt.

Ein malerisches Reflektieren dieser Art sucht nach Entsprechungen in Farbwahl und Malweise. Nicht unvermischte, ungetrübte oder gar grelle Buntfarben sind gefragt. Ein breites Spektrum an gedämpft schimmernden, vielfarbig nuancierten Zwischentönen kommt in Radekes Bildwelt zum Einsatz. Die Arbeiten werden häufig von Hell-dunkel-Kontrasten oder einem einheitlichen, subtil abgestuften Farbklang bestimmt. Die rahmenden Pole bilden alle Schatten-nahen und rötlich-erdigen, eher auf (ur-)Materie bezogenen Farben und jene, das Ätherische und die Geisteswelt repräsentierenden Weißmischungen, welche durch diverse Farbzustände temperiert und räumlich geweitet werden. Nicht zu übersehen sind auch all die an Haut, Fleisch und Blut erinnernden Farbwerte.


Häufig bringen Pinsel oder Spachtel zwei oder drei Farben von der Palette auf die Leinwand, wo erst der Vermischungsprozess stattfindet, der von einem Strukturierungsprozess begleitet wird. Ein wichtiges Werkzeug ist dabei der Lappen, der verwischt und glättet.
Der Spachtel kommt insbesondere bei den Figuren zum Einsatz, da seine eingeschränkte Beweglichkeit und Kantigkeit dem angestrebten Grad an Abstraktion entgegenkommt.
Bei mehreren Bildern wurde in die noch feuchte Farbe feiner Fließstoff eingearbeitet, dessen Struktur dem Pinselduktus der Künstlerin ähnlich ist. In seiner bedingt durchlässigen Beschaffenheit und als Material der Verhüllung scheint er für A.-C. Radekes Themenkanon prädestiniert zu sein.

Vor etwas mehr als hundert Jahren hat Paul Gauguin eines seiner bedeutendsten Bilder gemalt. Der Titel dieses Bildes ist wie ein roter Faden, der die Malerei von A.-C. Radeke programmatisch durchzieht: „Woher kommen wir? Wer sind wir? Wohin gehen wir“.
Ob es in weiteren hundert Jahren noch Menschen gibt, die bereit sind, einen Großteil ihres Lebens der Malerei zu widmen, scheint angesichts der rasanten technologischen Entwicklungen, und der Verlagerung des Schwerpunktes künstlerischer Ausdrucksmittel in jede Richtung, durchaus fragwürdig.

Gerhard Richter, scharfsinniger Analytiker und Großmeister der Malerei, sagte kürzlich in einem Interview: „Ein Bild kann uns helfen, etwas zu denken, was über dieses sinnlose Dasein hinausgeht.“
Wie viel Sinn wir diesem Dasein beimessen, muss sicherlich jeder für sich beantworten. Dass aber eine Malerei, die mit entschlossenem Einsatz, umsichtigem Wissen und den unerlässlichen Fertigkeiten zur Ausführung gelangt, das Besagte vermag, wird uns hier und heute durch die Bilder von Anne-Christin Radeke bestätigt.